Erwartungshaltung
geworden“
zwischen Finanzmarkt- und Coronakrise
verschärft. Damit sind die Risiken, dass nicht
alle Betriebe gleichermaßen unbeschadet
aus der Krise kommen, im Vergleich zu
damals gestiegen. In vielen anderen Segmenten
sehen wir übrigens die Aussichten
positiver: Hier gibt es weitaus mehr „Krisengewinner“
als in der Fleischwirtschaft,
weil die äußeren Rahmenbedingungen zu
Beginn der Krise nicht so nachteilig waren.
FLEISCH-MARKETING: Was wird die sogenannte
„Neue Normalität“ auszeichnen? Und
wie sollte die Foodbranche darauf reagieren?
RIEMANN: Wir sehen, dass die Coronakrise
bestimmte Dinge, die bereits vorher auf der
(politischen) Agenda standen, auf ein völlig
neues Aufmerksamkeitslevel hievt. Dazu
gehören arbeitsrechtliche und -ethische
Standards, die Einhaltung von Hygienekonzepten
genauso wie ökologische Nachhaltigkeit.
Der verstärkte Fokus auf diese
Themen wird entlang der gesamten Wertschöpfungskette
spürbar werden. Zwei
Effekte sind hieraus denkbar. Zum einen
könnte gerade der Anfang der Wertschöpfungskette
wieder stärker dezentralisiert
werden, das heißt wieder stärker regional
und in kleineren Einheiten abgebildet werden.
Zum anderen – und das betrifft den
Fleischmarkt weit stärker als andere Segmente
der Nahrungsmittelindustrie – könnten
die gestiegenen Standards zu höheren
Preisen führen und sich so auch im Geldbeutel
der Verbraucher niederschlagen.
FLEISCH-MARKETING: Welche Handlungsempfehlungen
haben Sie speziell für den LEH?
RIEMANN: Lockdown und Einschränkungen
für Gastronomie und Catering-Formate im
Rahmen der Pandemiebekämpfung und ein
langfristig höherer Homeoffice-Anteil führen
zu einer tektonischen Verschiebung
zwischen den Absatzkanälen Out-of-home
und In-home. Mit ihren Angeboten an
ultrafrischen Snacks und frisch zubereiteten
Speisen auf der Fläche und im Vorkassenbereich
haben die meisten Händler heute
schon ein hybrides Geschäftsmodell aus Inhome
Matthias Riemann berät als Partner bei
Munich Strategy, einer internationalen
Managementberatung mit Büros in München,
Amsterdam und Chicago,
Unternehmen des gehobenen
Mittelstands der Nahrungs-
mittel- und Verpackungs-
industrie und des
Maschinenbaus.
und Out-of-home-Komponenten. Daraus
lässt sich in Zukunft noch deutlich mehr
machen – beispielsweise durch Nutzung der
vorhandenen Küchen als „Ghost Kitchens“
in Zusammenarbeit mit Lieferdiensten.
Eine besondere Stärke können die Händler
auch mit ihrer regionalen Verwurzelung
ausspielen. Die regionale Herkunft und
Transparenz für Fleisch und Wurstwaren haben
eine große Bedeutung für das Vertrauen
der Konsumenten, aber auch regionale Spezialitäten
auf den Menükarten können die
Wertschätzung der Shopper und die Kundenbindung
fördern.
FLEISCH-MARKETING: Glauben sie, dass
der Online-Anteil im Lebensmittelmarkt in
Deutschland durch Corona an Fahrt
gewinnen wird?
RIEMANN: Die Herausforderungen im ersten
Lockdown, überhaupt die Einkäufe für den
täglichen Bedarf zu bewältigen, haben viele
Konsumenten zu ersten Testkäufen im E-
Grocery veranlasst. Die Erfahrungen waren
dabei durchwachsen, gerade bezüglich
Lieferzeiten oder Qualität von Frischware.
Nach der Normalisierung in den LEH-Outlets
bleibt immerhin ein Teil der Konsumenten
Trends & Märkte
diesem Kanal treu. Eine grundlegende
Trendwende zu einem deutlich höheren
Onlineanteil wie in den Niederlanden oder
Großbritannien ist für Deutschland jedoch
auf Sicht nicht zu erwarten. Die preisaggressive
Handelslandschaft und die hohe
Abdeckung mit LEH-Flächen machen es für
E-Grocery-Vollsortimenter schwierig, weitere
Marktanteile zu gewinnen.
Eine interessante Variante bringen die
Getränke-Lieferdienste wie Durstexpress
oder Flaschenpost mit ihren digital getriebenen
Geschäftsmodellen ins Spiel. Extrem
kurze Lieferzeit von wenigen Stunden,
sperrige, schwere Güter und eine
Lieferung ohne Aufschlag machen das
Angebot für den Konsumenten sehr
attraktiv. Da leuchtet es ein, dass auch
schnell mal ein paar Snacks oder Heimtierbedarf
mitbestellt werden. Im Ausland
kennt man dieses Geschäftsmodell als
„Quick Commerce“. Für diesen „zusätzlichen“
Service sind die Konsumenten bereit,
auch etwas tiefer in die Tasche zu greifen –
und ihre Daten den Lieferanten zu überlassen.
Nicht zuletzt deswegen hat Dr. Oetker
gerade einen stolzen Preis für die Übernahme
von Durstexpress bezahlt.
12/2020 Fleisch-Marketing 11